
Wiedergutmachung als Begriff und Konzept
„Wiedergutmachung stellt einen symbolischen Akt dar, das den Verfolgten angetane Unrecht in der noch einzig möglichen Form zu reparieren. Sie ist […] kein Objekt des Aushandelns, sondern nur des Handelns, sie ist nicht die Ablösung der moralischen Schuld, noch kann sie es sein, sondern sie ist – nach Meinung vieler Deutscher – die Wiederherstellung der deutschen Ehre.“
zit. n. Kurt Grossmann, 3. Oktober 1958, „Die Furcht vor der Zahl“, erschienen in: „Der Aufbau“
Weitere Informationen zu Kurt Grossmann
Der 1933 aus Berlin nach Prag, später nach Paris und 1939 in die USA geflohene Journalist Kurt Grossmann entstammte einer jüdischen Familie aus Ostpreußen und wuchs in Berlin auf. In den 1920er Jahren engagierte er sich als Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte (DLM), bevor er 1933 in der NS-Diktatur ausgebürgert wurde. In den USA nahm er journalistische Tätigkeiten für deutsche Exilzeitungen auf und bereiste ab 1949 auch immer wieder die Bundesrepublik. Zugleich vertrat er jüdische Interessengruppen, so war er ab 1957 etwa für die Conference on Jewish Material Claims Against Germany tätig. Im Aufbau veröffentlichte er zahlreiche Artikel, in denen er Statistiken zum Wiedergutmachungsprozess auswertete und darin sowohl Kritik an der langsamen Durchführung äußerte als auch moralische Fragen zur Wiedergutmachung aufwarf. Für weitere Informationen zu Kurt Grossmann siehe: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119321211.html (aufgerufen am 21.06.2024).
Hinweis: Die Urheberrechte des Zitats liegen bei dem Archiv AUFBAU im Verlag JM Jüdische Medien AG, Zürich.
Ein Sammelbegriff?
Rehabilitierung und Entschädigung der Verfolgten und Opfer des Nationalsozialismus bildeten neben dem Verbot belasteter Organisationen oder der Bestrafung der TäterInnen zentrale Schwerpunkte der offiziellen Aufarbeitung der NS-Zeit. Sie werden vielfach unter dem Sammelbegriff der Wiedergutmachung zusammengefasst. Unter ihm versteht man im Allgemeinen alle Aktivitäten, welche auf einen Ausgleich von Schäden abzielen, die den „rassisch“, religiös sowie politisch Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes zugefügt worden sind, im Besonderen Maßnahmen der finanziellen Entschädigung und Rückerstattung.[1]
Vielfältige Facetten
Hans Günter Hockerts untergliedert die Sammelbezeichnung „Wiedergutmachung“ in verschiedene Bereiche, welche die vielfältigen Facetten des Begriffs zum Ausdruck bringen. Laut Hockerts handelt es sich „erstens, um die Rückerstattung von Vermögenswerten, die den NS-Verfolgten entzogen worden sind, und, zweitens,[um] die Entschädigung für die Eingriffe in Lebenschancen wie dem Verlust an Freiheit, Gesundheit, beruflichem Fortkommen.“[2] Darüber hinaus nennt er die juristische Rehabilitierung von Unrechtsurteilen, etwa die Ausbürgerung oder die Aberkennung akademischer Grade, sowie den Umgang mit NS-Verfolgten aus dem Ausland, dessen Aufarbeitung „den Hintergrund für eine Reihe von zwischenstaatlichen Abkommen bilde[t] “[3]. Die Vielfalt an Gründen für die Stellung eines Entschädigungsantrags seitens im Nationalsozialismus verfolgter Personen bzw. deren Angehörigen beweist die Größe des dem Thema innewohnenden Erkenntnispotentials: So konnten neben Schaden am Leben auch Schaden an Körper und Gesundheit, Schaden an Freiheit durch Freiheitsentziehung oder -beschränkung, Schaden an Eigentum durch Zerstörung, Plünderung, Flucht oder Auswanderung sowie Schaden durch die erzwungene Zahlung sogenannter „Sonderabgaben“, Geldstrafen und Bußen als Entschädigungsgründe geltend gemacht werden. Ansprüche auf Entschädigungszahlungen in Form von Geldsummen und/oder Renten stellten auch Schäden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen dar, etwa durch: eine Verdrängung aus oder Beschränkung in einer Erwerbstätigkeit; durch die Entlassung, ein vorzeitiges Ausscheiden oder eine Zwangsversetzung; durch den Ausfall an Bezügen im öffentlichen Dienst oder durch einen Ausschluss sowie erzwungene Unterbrechungen von der erstrebten Ausbildung ebenso wie Soforthilfen bei Rückwanderung.

(Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung Saarburg; VA16123)

(Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung Saarburg; VA 2517675)
Schuld und Schulden
Der Begriff der Wiedergutmachung verweist dabei vor allem auf die ersten beiden genannten Aktivitätengruppen und ist, insbesondere unter dem Aspekt der Unmöglichkeit des rein finanziellen Ausgleiches von erlittenen immateriellen Schäden durch NS-Unrecht, in der Öffentlichkeit wie auch der historischen Forschung vielfach umstritten [4], weshalb z. B. der Begriff der „Entschädigung“ als unproblematischer erscheint:[5] KritikerInnen schätzen beide Bezeichnungen, im Besonderen aber jene der Wiedergutmachung, als verharmlosend ein, da sie den Anspruch vermittelten, dass man die millionenfache Verfolgung, Ausbeutung und Ermordung von Menschen während der NS-Zeit und die damit zusammenhängende Schuld mit potenziell abzahlbaren Schulden gleichsetzen und damit durch einen finanziellen Ausgleich einfach „wieder-gut-machen“ könnte. Insbesondere aus Sicht von jüdischen RepräsentantInnen bezieht sich die als symbolischer Ausgleich durchaus akzeptierte finanzielle „Wiedergutmachung“ im Sinne von „Sühne“ lediglich auf materielle Schädigungen, ist jedoch nicht als Schuldtilgung zu verstehen. Im Raum steht daher die Fraglichkeit der Umwandlung von moralischer und politischer Schuld in materielle Schulden, wie es der Historiker Constantin Goschler formuliert; Goschler zufolge sei gerade diese Vorstellung ein Nährboden für die insbesondere seit den 1960er Jahren aufgekommenen Forderungen, auch aus der deutschen Politik, nach einem erinnerungskulturellen „Schlussstrich“.[6] Darüber hinaus wurde und wird insbesondere aus Betroffenenperspektive kritisch gesehen, dass der Prozess der Wiedergutmachung bzw. die Ausgestaltung der entsprechenden Sühneleistungen in den Händen des in der Verantwortung der TäterInnen stehenden Staates lag, ohne dass die Verfolgten selbst daran jedoch nachhaltig beteiligt waren.[7] Als problematisch erweist sich überdies die Abgrenzung von Wiedergutmachungs- bzw. Entschädigungsleistungen von Kriegsreparationen: Da das NS-Regime nicht nur einen Kampf nach Außen gegen seine Kriegsgegner, sondern eben auch nach „Innen“ gegen Teile der eigenen Bevölkerung sowie jener der von ihm besetzten Gebiete führte, lässt sich eine genaue Abgrenzung von inneren und äußeren Folgen der NS-Herrschaft sowie die Unterscheidung, was man als Reparationen an andere Staaten als völkerrechtliche Subjekte einer- und als Wiedergutmachung für Einzelpersonen bzw. Bevölkerungsgruppen andererseits kategorisieren kann, nur schwer treffen. Der Begriff der Wiedergutmachung wird daher aus Sicht der deutschen Verwaltung ebenso wie aus Betroffenensicht mitunter bewusst verwendet, um die mit ihm in Verbindung stehenden Entschädigungsleistungen von „regulären“ Reparationen abzugrenzen.[8] Aus pragmatischen Gründen wird an ihm bis heute mehrheitlich festgehalten, da terminologisch wenige Alternativen zur Verfügung stehen und er „als die einzig verfügbare sprachliche Klammer […] eine Vielzahl von Vorgängen und Rechtsgebieten zusammen[hält], die darüber entscheiden, ob und wie aus Verfolgten [Entschädigungsb]erechtigte wurden“.[9]
[1] Vgl. hierzu Forster, David: „Wiedergutmachung“ in Österreich und der BRD im Vergleich. Innsbruck/ Wien/ München 2001, S. 24–29; Goschler, Constantin: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945. Göttingen 2005 (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 111), S. 7–17; Grau, Bernhard: Entschädigungs- und Rückerstattungsakten als neue Quelle der Zeitgeschichtsforschung am Beispiel Bayerns, in: zeitenblicke 3/2 (2004), o. S.; Hense, Anja: Verhinderte Entschädigung – die Entstehung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ für die Opfer von NS-Zwangsarbeit und „Arisierung“. Münster 2008, S. 57, 88; Hockerts, Hans Günter: Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945–2000, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), S. 167–214, hier S. 167–169; Irmer, Thomas: Wiedergutmachung, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen. Berlin/Boston 2011, S. 435–438, hier S. 435, 438; Ziwes, Franz-Josef: Entschädigungsakten/Wiedergutmachungsakten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, Stand: 23.05.2017, URL: https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde/archivaliengattungen/akten/inhaltliche-unterscheidung/entschadigungs-und-wiedergutmachungsakten (aufgerufen am 01.09.2023).
[2] Zit. n. Hockerts, Hans Günter: Wiedergutmachung in Deutschland 1945–1990. Ein Überblick‘., in: ApuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte 25–26 (2013), S. 15 (auch digital verfügbar unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/162883/wiedergutmachung-in-deutschland-1945-1990-ein-ueberblick/ [aufgerufen am 21.06.2024]).
[3] Zit. n. ebd., S. 15.
[4] Siehe hierzu Niethammer, Lutz: „Wieder – gut – machung“ als Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur, in: Kenkmann, Alfons [u. a.] (Hrsg.): Wiedergutmachung als Aufgabe. Essen 2007, S. 283–294; Hockerts, Hans Günter [u. a.] (Hrsg.): Wiedergutmachung. Ein umstrittener Begriff und ein weites Feld, in: Hockerts, Hans Günter/ Kuller, Christiane (Hrsg.): Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland. Göttingen 2003; siehe auch Schmidt, Hans-Gerhard: Entschädigung für NS-Unrecht ohne Wiedergutmachung? Sozialstaatliche Schadensregulierung für Verfolgte des Nationalsozialismus in Bremen. Bremen 2023, S. 22–33; Winstel, Tobias: Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland. München 2006, S. 9ff.
[5] Hans-Gerhard Schmidt etwa schlägt in einer aktuellen Veröffentlichung die Verwendung des offenen Oberbegriffs der „Verfolgtenentschädigung vor“, siehe Schmidt 2023, S. 24.
[6] Vgl. Forster 2001, S. 24–29; Goschler 2005, S. 7–17, insbesondere S. 9; Grau 2004; Hense 2008, S. 57, 88; Hockerts 2001, S. 167–169; Irmer 2011, S. 435, 438; Ziwes 2017.
[7] Siehe ebd.
[8] Hierzu Goschler 2005, S. 13, 15.
[9] Hockerts 2001, S. 169.
Wieder-gut-gemacht? Hinweise zu verwendeten Begrifflichkeit auf dieser Website
(hier im Aufgriff der Hinweise auf der Startseite des Themenschwerpunktes Wiedergutmachung)
An dieser Stelle möchten wir auf die Problematik des Wiedergutmachungsbegriffs hinweisen. Die Verwendung des Begriffes suggeriert ein mögliches „Wieder-gut-machen“ des von der NS-Diktatur verursachten, unermesslichen menschlichen Leids durch Verfolgung, Ausbeutung und systematischer Ermordung; ein vermeintliche mögliches Gleichsetzen der damit zusammenhängenden Schuld mit potenziell abzahlbaren Schulden. Dies war, ist und wird niemals möglich sein.
Schon seit Beginn der 1950er Jahre wird die Umstrittenheit des Begriffs der „Wiedergutmachung“ vielfach thematisiert, wobei bis heute in der Geschichtswissenschaft kein einheitlicher Konsens herrscht. Als zentrales Argument in der Diskussion gilt dabei – neben dem Vorwurf einer erinnerungskulturellen Verharmlosung – die Bezugnahme des Begriffs auf die Perspektive der Wiedergutmachenden, anstatt auf die im Nationalsozialismus verfolgten Menschen.
In den auf dieser Website veröffentlichten Texten wurde sich für eine Verwendung des Begriffs entschieden, folgend der Argumentation von Hans Günter Hockerts, der den Begriff „als die einzig verfügbare sprachliche Klammer“ bezeichnet, die „[…] eine Vielzahl von Vorgängen und Rechtsgebieten zusammen[hält], die darüber entscheiden, ob und wie aus Verfolgten Berechtigte [d.h. Entschädigungsberechtigte, d. Verf.] werden“. In den didaktischen Materialien haben sich die VerfasserInnen dieser Verwendung angeschlossen oder sich für eigens gewählte Begrifflichkeiten, bzw. distanzierende Markierungen wie zum Beispiel Anführungszeichen oder Kursivierungen entschieden.
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In didaktischen Kontexten ist eine sorgfältige Begriffsreflexion in jedem Fall zu empfehlen, so wird sie etwa auch durch ein didaktisches Arrangement zu einem Auszug einer Veröffentlichung Hans Günter Hockerts in dem Oberstufenwerk „Horizonte“ für Rheinland-Pfalz in der Auflage von 2023 mit dem Titel „Wiedergutmachung? Einen Begriff hinterfragen“ (S. 369) angeregt. Die umstrittene Begriffsverwendung lässt sich für SchülerInnen auch ausgehend von aktuellen Veröffentlichungen in didaktische Kontexte zur gezielten Förderung der Urteils- und Reflexionskompetenz überführen, so etwa über eine Bezugnahme auf die kontroversen Standpunkte folgender AutorInnen:
Niethammer, Lutz: „Wieder – gut – machung“ als Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur, in: Kenkmann, Alfons [u. a.] (Hrsg.): Wiedergutmachung als Aufgabe. Essen 2007, S. 283–294.
Hockerts, Hans Günter [u. a.] (Hrsg.): Wiedergutmachung. Ein umstrittener Begriff und ein weites Feld, in: Hockerts, Hans Günter/ Kuller, Christiane (Hrsg.): Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland. Göttingen 2003.
Hockerts, Hans Günter: „Wiedergutmachung in Deutschland 1945-1990. Ein Überblick“, in: ApuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte 25-26/2013, S. 15ff.
Schmidt, Hans-Gerhard: Entschädigung für NS-Unrecht ohne Wiedergutmachung? Sozialstaatliche Schadensregulierung für Verfolgte des Nationalsozialismus in Bremen. Bremen 2023, hier S. 22–33.
Winstel, Tobias: Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland. München 2006, hier S. 9ff.
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