
Wiedergutmachung
Schlaglichter auf fachlich-didaktische Erkenntnispotentiale eines innovativen Themas
AutorInnen der Einführungstexte:
Katharina Buchholz, Felix Maskow
Die „zweite Geschichte“ des Nationalsozialismus
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945 ist in den vergangenen Jahren verstärkt in den Fokus des Geschichtsunterrichts gerückt[1] – eine Tendenz, die sich durch mehr als die zunehmende zeitliche Distanz begründen lässt. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus beschreibt eine sich stetig pluralisierende Geschichte, die geprägt ist von einer deutsch-deutschen Perspektive, den Sichtveränderungen nach der Wiedervereinigung sowie einer internationalen Dimension. Sie ist eine Geschichte, die sich über ihre Deutungen in aktuellen Debatten dynamisch weiterentwickelt und mittlerweile insbesondere auch in digitalen Kontexten vervielfältigt. Die didaktische Auseinandersetzung mit der „zweiten Geschichte des Nationalsozialismus“[2] erweist sich vor allem deshalb als wertvoll, weil sie gegenwarts- wie zukunftsorientiert ausgelegt ist. So birgt die Beschäftigung mit Erinnerungsdiskursen und ihrer Ausdeutung großes Potential zur Urteilsbildung, fördert über ihre Kontroversität Demokratie- wie Reflexionskompetenz und bietet schließlich Anknüpfungspunkte für eigenes Gestalten von Erinnerung und Gedenken, indem sie die Lernenden – etwa unter Beachtung regionaler oder biografischer Zugänge – zu einem aktiven „doing history“ einlädt.
Vielfältige Erkenntnispotentiale
Das Themenfeld der deutschen Wiedergutmachungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein wichtiger Teil der Aufarbeitungsgeschichte des Nationalsozialismus, der den juristischen und gesellschaftlichen Umgang mit NS-Verfolgtengruppen, aber auch individuelle, (familien-)biografische Kontexte zur Zeit des Nationalsozialismus ins Zentrum rückt. Geschichtsdidaktisch hat die Thematik aber bisher kaum Aufmerksamkeit erfahren.[3] Auch wenn das Thema etwa in dem zum Schuljahr 2023/24 in Kraft getretenen rheinland-pfälzischen Lehrplan der Oberstufe im Fach Geschichte unter „juristische Aufarbeitung, gesellschaftliche Debatten und geschichtspolitischer Umgang mit dem Nationalsozialismus in den beiden deutschen Staaten nach 1949“[4] aufgeführt wird, finden sich in geschichtsdidaktischen Materialien und Schulgeschichtsbüchern dahingehend fast ausnahmslos Leerstellen.[5]
Die Inhalte der folgenden Unterseiten werfen fachliche, methodische wie didaktische Schlaglichter auf das Themenfeld der Wiedergutmachung und möchten so dessen vielfältiges Erkenntnispotential herausstellen.
Wieder-gut-gemacht? Hinweise zu verwendeten Begrifflichkeiten
An dieser Stelle möchten wir auf die Problematik des Wiedergutmachungsbegriffs hinweisen. Die Verwendung des Begriffes suggeriert ein mögliches „Wieder-gut-machen“ des von der NS-Diktatur verursachten, unermesslichen menschlichen Leids durch Verfolgung, Ausbeutung und systematischer Ermordung; ein vermeintlich mögliches Gleichsetzen der damit zusammenhängenden Schuld mit potenziell abzahlbaren Schulden. Dies war, ist und wird niemals möglich sein.
Schon seit Beginn der 1950er Jahre wird die Umstrittenheit des Begriffs der „Wiedergutmachung“ vielfach thematisiert, wobei bis heute in der Geschichtswissenschaft kein einheitlicher Konsens herrscht. Als zentrales Argument in der Diskussion gilt dabei – neben dem Vorwurf einer erinnerungskulturellen Verharmlosung – die Bezugnahme des Begriffs auf die Perspektive der Wiedergutmachenden, anstatt auf die im Nationalsozialismus verfolgten Menschen.
Weitere Erläuterungen zur begrifflichen Einordnung, u.a. zur jüdischen Perspektive, finden sich auf der Themenseite Wiedergutmachung als Begriff und Konzept.
In den auf dieser Website veröffentlichten Texten wurde sich für eine Verwendung des Begriffs entschieden, folgend der Argumentation von Hans Günter Hockerts, der den Begriff „als die einzig verfügbare sprachliche Klammer“ bezeichnet, die „[…] eine Vielzahl von Vorgängen und Rechtsgebieten zusammen[hält], die darüber entscheiden, ob und wie aus Verfolgten Berechtigte [d.h. Entschädigungsberechtigte, d. Verf.] werden“. In den didaktischen Materialien haben sich die VerfasserInnen dieser Verwendung angeschlossen oder sich für eigens gewählte Begrifflichkeiten, bzw. distanzierende Markierungen wie zum Beispiel Anführungszeichen oder Kursivierungen entschieden.
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In didaktischen Kontexten ist eine sorgfältige Begriffsreflexion in jedem Fall zu empfehlen, so wird sie etwa auch durch ein didaktisches Arrangement zu einem Auszug einer Veröffentlichung Hans Günter Hockerts in dem Oberstufenwerk „Horizonte“ für Rheinland-Pfalz in der Auflage von 2023 mit dem Titel „Wiedergutmachung? Einen Begriff hinterfragen“ (S. 369) angeregt. Die umstrittene Begriffsverwendung lässt sich für SchülerInnen auch ausgehend von aktuellen Veröffentlichungen in didaktische Kontexte zur gezielten Förderung der Urteils- und Reflexionskompetenz überführen, so etwa über eine Bezugnahme auf die kontroversen Standpunkte folgender AutorInnen:
Niethammer, Lutz: „Wieder – gut – machung“ als Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur, in: Kenkmann, Alfons [u. a.] (Hrsg.): Wiedergutmachung als Aufgabe. Essen 2007, S. 283–294.
Hockerts, Hans Günter [u. a.] (Hrsg.): Wiedergutmachung. Ein umstrittener Begriff und ein weites Feld, in: Hockerts, Hans Günter/ Kuller, Christiane (Hrsg.): Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland. Göttingen 2003.
Hockerts, Hans Günter: „Wiedergutmachung in Deutschland 1945-1990. Ein Überblick“, in: ApuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte 25-26/2013, S. 15ff.
Schmidt, Hans-Gerhard: Entschädigung für NS-Unrecht ohne Wiedergutmachung? Sozialstaatliche Schadensregulierung für Verfolgte des Nationalsozialismus in Bremen. Bremen 2023, hier S. 22–33.
Winstel, Tobias: Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland. München 2006, hier S. 9ff.

Fachlich-didaktische Kontexte
Hier finden sich fachlich-didaktische Erläuterungen zur begrifflichen Einordnung, zum Forschungsstand des Themas, zur Quellenkunde, zu didaktischen Potentialen und Herausforderungen sowie Literaturhinweise.

Didaktische Impulse
Hier finden sich didaktisch-methodische Arrangements mit konkreten Materialangeboten und Aufgabenimpulsen zum Thema.

Hörbar – Sichtbar
Hier finden sich thematisch gruppierte und biografisch kontextualisierte Auszüge aus Wiedergutmachungsakten in Schriftform und als Audio-Dokumente.
[1] Überblicke bei Brechtgen, Magnus: „Vergangenheitsaufarbeitung“. Formen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in: Praxis Geschichte 1 (2023), S. 4–9; Brechtgen, Magnus: Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium. Göttingen 2021; Tümmers, Henning: Nach Verfolgung und Vernichtung. Das Dritte Reich und die Deutschen nach 1945. Stuttgart 2021.
[2] Zur Verwendung der Begrifflichkeit in Abgrenzung zur „Vergangenheitsbewältigung“ siehe Homberg, Manuela/ Homberg, Michael: Umkämpfte Vergangenheit. Perspektiven einer „zweiten Geschichte“ des Nationalsozialismus für Geschichtswissenschaft, Unterricht und Public History, in: Homberg, Manuela/ Homberg, Michael (Hrsg.): Deutungskämpfe – die „zweite Geschichte“ des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2024, S. 7–30, hier S. 7.
[3] Diese Diskrepanz mag dadurch begründet sein, dass es sich um ein bisher überschaubar beforschtes Thema handelt. Dies wiederum hängt wohl wesentlich damit zusammen, dass der Zugriff auf Wiedergutmachungsakten durch die zeitliche Nähe erst im Verlauf der letzten Jahre frei von Schutzfristen möglich wurde. In den letzten Jahren ist das Forschungsinteresse spürbar gestiegen, für eine Auswahl aktueller Veröffentlichungen siehe z. B.: Goschler, Constantin: Diskurse und Praktiken der Wiedergutmachungs- und Entschädigungspolitik in Ost und West, in: Homberg, Manuela/ Homberg, Michael (Hrsg.): Deutungskämpfe – die „zweite Geschichte“ des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2024, S. 79–97; Grumblies, Florian: Rückerstattung und Entschädigung. Die Praxis der „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts am Beispiel der Juden der Stadt Hannover 1945–1965. Hannover 2021; Schmidt, Hans-Gerhard: Entschädigung für NS-Unrecht ohne Wiedergutmachung? Sozialstaatliche Schadensregulierung für Verfolgte des Nationalsozialismus in Bremen. Bremen 2023.
[4] Zit. n. Lehrplan für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Mainzer Studienstufe. Erdkunde, Geschichte, Sozialkunde in der Fassung von August 2022, S. 99.
[5] Eine Ausnahme für Rheinland-Pfalz bildet das Lehrwerk Horizonte. Geschichte Gymnasium SII in der Auflage von 2023. Auf den Seiten 369–371 wird hier der Auszug eines Darstellungstextes von Hans Günter Hockerts präsentiert und mit (u. a.) sprachsensiblen Arbeitsaufträgen zum Begriff der Wiedergutmachung gerahmt. Hinweise auch bei: (Ehemals) Pädagogisches Zentrum Rheinland-Pfalz und Landeszentrale für Politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Sinti und Roma. Eine deutsche Minderheit, in: PZ-Informationen 2/1999, insbesondere S. 79-92 sowie https://zumfeindgemacht.de/fall/heinrich-diehl-wiedergutmachung/ (Letzte Konsultation am 19.05.2025). Für allgemeine Erläuterungen zur Didaktik siehe Conrad, Franziska: „Bewältigung“ und „Wiedergutmachung“? Zum Umgang mit den Folgen der nationalsozialistischen Diktatur in der Bundesrepublik, in: Geschichte lernen 20/119 (2007), S. 2–12.
Geschichte, Kontexte und Rezeption der Wiedergutmachung – ein Zeitstrahl
Hinweis: Das durch das Bundesministerium für Finanzen initiierte und 2022 über das Archivportal-D sowie vom Bundesarchiv gelaunchte Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ enthält ebenfalls einen ausführlichen Zeitstrahl zur Politik der Wiedergutmachung, der vielfach Links zu digitalisierten Archivdokumenten enthält und sich dabei insbesondere auf die Entwicklung der Gesetzgebung von 1945 bis 2021 konzentriert. Umgesetzt wurde das Portal vom Landesarchiv Baden-Württemberg, dem Portal „Deutsche Digitale Bibliothek“ und dem Leibniz-Institut für Informationsinfrastruktur (FIZ) in Karlsruhe.
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