
Sammlung vertonter Aktenauszüge

Hier finden sich als Audio- oder Textdokumente präsentierte und kontextualisierte Auszüge aus Wiedergutmachungsakten, eingesprochen von Studierenden der JGU Mainz. Mit einem Klick auf die Biografien öffnen sich die Textauszüge der Akten.
Die Transkriptionen haben wir an die aktuell geltenden Rechtschreibregeln angepasst. Heute als diskriminierend oder euphemistisch geltende Begriffe wurden von uns mit entsprechenden Hinweisen markiert.
Nationalsozialistische Verfolgung als biografische Zäsur
Marie Schönfärber wurde 1900 in Mainz geboren und arbeitete nach Abschluss der höheren Mädchenschule in Worms als Lehrerin an der deutsch-jüdischen Schule des Philanthropins in Frankfurt/Main. 1936 flüchtete sie nach England und emigrierte 1946 schließlich in die USA. Sie schreibt am 2. November 1957 an das Regierungsbezirksamt für Wiedergutmachung in Mainz:
„Meine Mutter war in der Lage, uns eine gute Erziehung zu geben. Wir besuchten die höhere Mädchenschule in Worms & anschließend die dortige Oberrealschule, wo wir unser Abitur machten. […] Ich hatte angefangen Nationalökonomie zu studieren, gab aber mein Studium nach 1. Semester auf, um einen Beruf zu ergreifen, der mich eher auf eigenen Füßen stehen ließ, was für meine Mutter statt einer langjährigen Last eine frühere Hilfe bedeutete. Ich bereitete mich selbst für die Aufnahmeprüfungen im städtischen Oberlyzeum zu Frankfurt/Main vor, wo ich 1920/21 mein praktisches Jahr machte und mein Examen als Lehrerin bestand. Ich fand sogleich Beschäftigung und im Laufe der Jahre feste Anstellung an der großen deutsch-jüdischen Schule des Philanthropins in Frankfurt/Main, die von der jüdischen Gemeinde in Frankfurt/Main unterhalten wurde. […]. Wenig später kam das Nazi-Regime. Die wirtschaftliche Lage der Jüdischen Gemeinde drückte unsere Gehälter weiter herunter. Viel schlimmer, dass die Erregungen und Aufwühlungen, die die Ereignisse der Hitler-Zeit für jeden ernsten und in der deutschen Kultur verwurzelten Juden mit sich bringen mussten, mich sehr stark erkranken ließen. Ich hatte einen sehr schweren Nervenzusammenbruch und konnte 2 volle Jahre meinen geliebten Beruf nicht ausüben. Die Jüdische Gemeinde sah mich genötigt, mich vorzeitig zu pensionieren, und vom 01.10.1935 schranken meine jährlichen Einkünfte infolgedessen. […] Ich war außerdem gezwungen, monatelang im Schwarzwald unter der täglichen Betreuung eines Nervenarztes zu verbringen. […]. Der 10.11.38, an dem die Nazis auch in das Heim zweier wehrloser Frauen, meiner Mutter und meines, einbrachen mit der Frage: ‚Seid ihr Juden?‘ und auf die bejahende Antwort anfingen, den kostbaren Radioapparat wegzutragen und unsere schöne, z.T. antike Einrichtung vom 3. Stock auf die Straße zu werfen, machte den so schweren Entschluss der Auswanderung zum Gebot. Es gelang mir mit vieler Mühe mit meiner Schwester als Dienstmädchen nach England auszuwandern, meine Mutter mussten wir leider zurücklassen. […] Ich habe von Juli 1938 bis September 1953 nicht in meinem erlernten Beruf arbeiten können und auch dann erst nach über 6 kostspieligen Studienjahren für weitere 2 Jahre. Stattdessen war ich Dienstmädchen, Fabrikarbeiterin, einfache Büroangestellte mit geringem Verdienst in ungelerntem Beruf.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Marie Schönfärber, Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 16515)
Irma Korn (geb. Burg) wurde 1909 in Worms geboren. Sie legte 1929 ihr Abitur an der Eleonorenschule in Worms ab und studierte im Anschluss in München, Heidelberg und Bonn Neuphilologie mit dem Ziel, Lehrerin zu werden. Im Mai 1933 wurde sie auf Grund ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit zwangsexmatrikuliert und flüchtete 1937 in die USA. Sie schreibt in einer eidesstattlichen Erklärung ihres Wiedergutmachungsantrags an das Bezirksamt für Wiedergutmachung in Neustadt an der Weinstraße am 31. Januar 1955:
„Ich bin geboren am 25. Dezember 1909 in Worms […]. Ich bin 1915 in die Eleonoren-Schule, eine höhere Töchterschule in Worms eingeschult worden und habe diese absolviert. […] Ich habe an den Universitäten München, Heidelberg und Bonn Neuphilologie studiert, zur Vorbereitung auf den Beruf einer akademischen Lehrerin. […] Im Mai 1933 habe ich das Studium an der Universität Bonn aufgeben müssen, da ich als Jüdin nicht länger zum Hochschulstudium und zum Staatsexamen zugelassen wurde. Nachdem ich noch bis Mitte 1936 als Sekretärin und Korrespondentin tätig gewesen war, bin ich 1937 von Saarbrücken aus, wohin meine Eltern inzwischen verzogen waren, über Hamburg nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika ausgewandert. Hier bin ich als Verkäuferin tätig.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Irma Korn [geb. Burg], Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 48276)
Hermann Ibkendanz wurde 1890 in Rosenthal geboren und im Nationalsozialismus aus politischen Gründen verfolgt. Als Vorsitzender der Gewerkschaft des Eisenbahnverbandes und SPD-Mitglied wurde er am 9. Mai 1933 im (frühen) Konzentrationslager Osthofen inhaftiert, wenige Tage später wurde er durch die Reichsbahndirektion Mainz fristlos entlassen und fand erst 1938 wieder Beschäftigung. Er schreibt am 19. Oktober 1949 an die Betreuungsstelle der Opfer des Faschismus des Regierungspräsidiums in Mainz:
„Bemerken möchte ich noch, dass ich seit über 40 Jahren gewerkschaftlich und seit 37 Jahren parteipolitisch engagiert bin. Im Jahre 1933 [sic! 1923] wurde ich als Leiter des passiven Widerstands von der damaligen Besatzung von angeblich zu gutem deutschem Verhalten verhaftet. 10 Jahre später wurde ich von den Deutschen, weil ich nicht genug Deutsch gewesen bin, erneut in „Schutzhaft“ [durch die Verfasser nachträglich markiert] genommen.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Hermann Ibkendanz, Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 10009)
Fritz von Unruh wurde 1885 in Koblenz geboren und war ein erfolgreicher Dichter und Schriftsteller. Er soll1931 einer der Initiatoren der u. a. von der SPD, dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und den Freien Gewerkschaften getragenen „Eisernen Front“ gewesen sein. Unruh emigrierte 1932 nach Italien, später nach Frankreich. Im Exil betätigte sich Fritz von Unruh als Redner gegen den Nationalsozialismus. 1940 gelang ihm die Flucht vor der Gestapo nach Spanien, von wo aus er schließlich in die USA flüchten konnten. Er schreibt am 18. März 1950 an die sogenannte „Betreuungsstelle für politisch, rassisch und religiös Verfolgte“ in Frankfurt am Main:
„Sehr geehrte Herren! Ich bitte Sie nämlich zu bedenken, dass mir bei meiner Verfolgung und Ausbürgerung durch die Nazis, sowie durch die Anordnung des Propagandaministeriums, — von 1933 bis 1945 meine bis vor der Machtübernahme Hitler’s sonst jährlichen Einnahmen aus den Aufführungen meiner 10 Bühnenwerke an den deutschen Theatern durch strikte Aufführungsverbote sowie infolge Verbrennung und Vernichtung meiner Bücher geraubt wurden.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Fritz von Unruh, HHStAW Best. 518, Nr. 67603)
Zwischen Leerstellen, juristischem Anspruch und Retraumatisierung
Alfred Mendal (geb. Mendel) wurde 1901 in Niederwiesen (Kreis Alzey) geboren und arbeitete zunächst als verbeamteter Schulverwalter in Worms, bevor er 1931 an das Stadtschulamt Mainz versetzt wurde. Dort wurde er auf Grund seiner jüdischen Religionszugehörigkeit zum 31. März 1933 mit sofortiger Wirkung entlassen. Bis 1938 war Mendel als Lehrer an der Jüdischen Bezirksschule in Mainz tätig, bevor er in die USA flüchtete. In den 1950er Jahren stellte er einen Entschädigungsantrag beim Regierungsbezirksamt Mainz, dem folgender Auszug eines Briefes von Mendel an den in Mainz wohnhaften Steuerrat Joh. Harth entnommen ist:
„Ich lebe immer in Angst, dass wieder etwas Schreckliches über uns kommen könnte. Sie können sich nicht vorstellen, dass mich dieser Spaß wieder eine schöne Stange Geld gekostet hat und noch kostet. Ich habe wirklich großes Pech gehabt in meinem Leben und da muss man noch Gott weiß wie kämpfen, um die Behörden zu überzeugen, dass man bevor man auswanderte von der Nazi-Regierung auf Mord und Tod geschröpft worden ist. […] Ich habe sicherlich noch andere Werte eingebüßt, aber es sind nun über 18 Jahre zurück und ich kann mich nicht mehr an alles erinnern.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Alfred Mendal [geb. Mendel], Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 10308)
Die 1883 in Mainz geborene, katholische Gertrude Kaufmann (geb. Wahl) lebte nach 1945 in Osthofen und berichtet in einem Formular an die sogenannte „Betreuungsstelle für politisch, rassisch und religiös Verfolgte“ in Worms am Rhein vom September 1945 zu ihrem Mann, Leopold Kaufmann, der 1940 von Nationalsozialisten auf Grund seiner jüdischen Religionszugehörigkeit im KZ Sachsenhausen nach zweijähriger Inhaftierung ermordet wurde:
„Mein Mann war Jude, wurde seit 1933 ständig verfolgt und in seiner Beschäftigung immer gehindert. Im Juni 1938 wurde er verhaftet durch die Gestapo und anschließend in das KZ-Lager Oranienburg verbracht. Er verstarb 1940 dort (soll sehr misshandelt worden sein). Alle Unterlagen sind verbrannt, die Lagernummer weiß ich auch nicht mehr. Es waren eigentlich nur jüdische Zeugen vorhanden, die nicht mehr hier wohnen. Sonstige Zeugen kann ich nicht benennen. […]“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Getrude Kaufmann nach Leopold Kaufmann, Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 14646)
Heinrich Haas wurde 1893 in Hahnheim geboren. 1933 und 1938 wurde Haas auf Grund seiner jüdischen Religionszugehörigkeit im (frühen) Konzentrationslager Osthofen sowie im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. In seinem Wiedergutmachungsantrag fehlten Heinrich Haas Dokumente über seinen Ausbildungsweg von 1912 bis 1925. Eine Zeit, in der er laut eigenen Angaben in der Lehre und später als Metzgergeselle tätig war, ab 1916 dann für zwei Jahre im Militär- und Kriegsdienst. Haas schreibt am 24. März 1966 an das Bezirksamt für Wiedergutmachung in Mainz:
„Diese für mich so sehr wichtigen Unterlagen kann ich nicht vorlegen, da diese in meinem Elternhaus aufbewahrt waren und durch die sogen. ‚Kristallnacht‘ durch völlige Demolierung der ges. Wohnräume nicht mehr auffindbar waren“.
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Heinrich Haas, Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 14378)
Die 1875 in Mainz geborene und als Jüdin im Nationalsozialismus verfolgte Lina Ummenhofer erklärt in einem Schreiben vom 2. Dezember 1950 an die Sachbehörde für Wiedergutmachung in Wiesbaden:
„Betr. Meine Wiedergutmachungssache. Auf Ihre Anfrage vom 21.10.50 bezüglich meiner alten Kennkarte […] dem roten Stempel ‚evakuiert‘ sowie meinem Entlassungsschein aus Theresienstadt muss ich Ihnen mitteilen, dass ich diese Unterlagen nach meiner Rückkehr aus Theresienstadt im Sommer 1945 im hiesigen Jüdischen Altersheim, Gagernstr. 36, in dem ich mich noch heute befinde, abgegeben habe. Diese Unterlagen habe ich später nicht mehr zurückbekommen und sind angeblich abhandengekommen.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Lina Ummenhofer, HHStAW Best. 518, Nr. 67467)
Karl Lautenschläger, ein Mithäftling im (frühen) KZ Osthofen, bescheinigt in einem Schreiben vom 5. Januar 1951 die dortige Inhaftierung Hermann Ibkendanz. Ibkendanz wurde 1890 in Rosenthal geboren und aus politischen Gründen im Nationalsozialismus verfolgt:
„Ich bescheinige hiermit Herrn Hermann Ibkendanz, Worms, […], dass derselbe am 3. Mai 1933 verhaftet, und in das Lager Osthofen überführt wurde. Über die Dauer der Inhaftierung in Osthofen kann ich keine Auskunft geben. Habe den Tag noch in guter Erinnerung, da ich an dem selben Tag in „Schutzhaft“ [durch die VerfasserInnen nachträglich markiert] genommen worden bin und ebenfalls nach Osthofen überführt worden bin“.
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Hermann Ibkendanz, Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 10009)
Der 1893 in Osthofen geborene Peter Bönisch arbeitete als Schausteller und war KPD-Mitglied. Auf Grund seiner politischen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus wurde er im Jahr 1934 im (frühen) Konzentrationslager Osthofen interniert. Nach dem Krieg war er in der SPD weiterhin politisch aktiv und lebte in Bingen-Büdesheim. In einem Schreiben an das Amt für Wiedergutmachung bei der Landesregierung in Koblenz vom 15. Mai 1949 schreibt Bönisch:
„Warum stützt man sich bei Beurteilungen, ob eine Anerkennung als ‚Opfer des Faschismus‘ gerechtfertigt ist oder nicht, auf eine oberflächliche Untersuchung eines sogenannten Amtsarztes und nicht auf die Gutachten ehemaliger politischer Häftlinge? Sind wir schon so weit, dass der einseitig gefärbte Bericht eines früheren Pg. auch wenn er Arzt ist, glaubwürdiger erscheint, als Tatsachenberichte ehemaliger Leidensgenossen? Es kommt mir in erster Linie nicht darauf an, irgendwelche Entschädigungen zu erhalten, sondern ich möchte eine Würdigung meines nicht nur kurze Zeit dauernden Kampfes gegen das dritte Reich erhalten. Diese Würdigung kann mir nicht ein Gremium von Personen absprechen, die weder mich persönlich, noch meinen Kampf gegen das Naziregime kennt.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Peter Böhnisch, Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 16123)
Die 1895 in Jugendheim in Rheinhessen geborene Ida Urnstein beschreibt in einer eidesstattlichen Erklärung ihres Wiedergutmachungsantrags aus dem Jahr 1958 ihre Möbel und Gegenstände des Hausrats, die sie vor ihrer Flucht in die USA zu Schleuderpreisen verkaufen und verschenken musste:
„Ich bin nicht in der Lage, genau anzugeben, was der angemessene Wert der von mir verschleuderten Gegenstände in 1939 war.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Ida Urnstein, HHStAW Best. 518, Nr. 67649)
Der 1893 in Monzingen an der Nahe geborene Julius Ullmann lässt über eine an die Entschädigungsbehörde in Wiesbaden gerichtete, eidesstattliche Erklärung seines Anwalts vom 23. Oktober 1961 erklären, welcher Verschleuderungsschaden ihm vor seiner Flucht nach Brasilien im Jahr 1934 widerfahren ist. Der Versuch der hessischen Entschädigungsbehörde, die Entschädigungsansprüche abzuwehren, scheiterte. Julius Ullmann erhielt eine Entschädigungszahlung im Wert 10.000 Mk., was rund 300 DM entsprach:
„Eidesstatt: Der Einrichtungswert meiner Wohnung mit allem Zubehör – Möbel – Kristall – Silber – Teppiche – Ölbilder – Speise, Tee und Kaffeeservice, komplettes Essbesteck aus Silber – Kunstgegenstände, echtes chin. Porzellan, darunter wertvolle Stücke aus der Ming-Zeit, echte orient. Messinggegenstände, eine reichhaltige Sammlung aus der Vorinca und Incazeit, dürfte nach ungefährer Schätzung bestimmt Mk. 25.000,00 betragen haben, während meine Frau von den verschiedenen Käufern nur Schleuderangebote bekam und daher nur rund Mk. 10.000,00 für die gesamte Einrichtung erzielte. […] Da meine Frau keinerlei Aufzeichnungen vorgenommen hat, sind ihr Käufer nicht mehr bekannt. Rio de Janeiro, den 02. Okt. 1961.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Julius Ullmann, HHStAW Best. 518, Nr. 67294)
Der 1904 in Mainz geborene Schuhmacher und Antiquitätenhändler Raymond Ullmann wurde auf Grund seiner jüdischen Religionszugehörigkeit und der Beziehung zu seiner späteren Frau verfolgt, in der NS-Presse öffentlich denunziert und auch inhaftiert. 1937 flüchtete er aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Kolumbien und kehrte im Anschluss an den Krieg über die USA nach Wiesbaden zurück. In einer an das Amtsgericht Wiesbaden gerichteten eidesstattlichen Erklärung vom 30. November 1949 berichtet er über die im Nationalsozialismus erlittenen Schäden am Eigentum seiner Familie:
„[…] verschwand die kostbare Einrichtung der Wohnung meines Vaters. Die Einrichtung der Wohnung meiner Mutter, die auch mir und meinem Bruder gehörte, wurde zu Schleuderpreisen verkauft (unter Druck), der Erlös der wertvollen Einrichtung reichte nicht aus, um die Kosten der Auswanderung meiner Mutter nach Bogotá, Colombia, zu finanzieren. Meine Bibliothek, die mehr als 600 Bände umfasste, wurde von meiner Mutter nach Luxemburg ausgelagert, und wurde dort als Beutegut von der deutschen Wehrmacht beschlagnahmt. Ein ungemein kostbares Originalgemälde von Anselm Feuerbach, ebenfalls unser Besitz, wurde ebenfalls in Luxemburg Beutegut der deutschen Wehrmacht und verschwand auf Nimmerwiedersehen.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Raymond Ullmann, HHStAW Best. 518, Nr. 912)
Belastende Dauer, überlastete Behörden?
Der 1904 in Mainz geborene und 1937 nach Südamerika geflüchtete Raymond Ullmann schreibt in einer undatierten Notiz seiner Wiedergutmachungsakte:
„Wenn ich aber bis zum Ende des Kalenderjahres 1960 warten muss, bis meine Wiedergutmachungsforderungen erfüllt werden, werde ich wahrscheinlich keine Wiedergutmachung mehr benötigen, denn bis zu diesem Zeitpunkt werde ich sicherlich verhungert sein.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Raymond Ullmann, HHStAW Best. 518, Nr. 912)
Der 1904 in Mainz geborene und 1937 nach Südamerika geflüchtete Raymond Ullmann schreibt in einem an den hessischen Regierungspräsidenten gerichteten Brief vom 11. Mai 1950:
„[Ich] werde dann das tun, was zu tun der Herr hessische Finanzminister von mir, [wie v]on jedem wiedergutmachungsberechtigten Juden erwartet. Ich werde den Kampf [auf mein]e Wiedergutmachung aufgeben, aber in so eklatanter Form, dass die Presse [der g]anzen Welt aufhorchen wird. Vielleicht wird man dann davon abzusehen, [die W]iedergutmachung als eine schöne ‚Geste‘ anzusehen, deren Verwirklichung [we]ge[n] Geldmangels der Länder doch praktisch nie erfolgen kann und wird. Es ist nicht meine Schuld, dass die Finanzämter alle Akten im Zuge des [sogen]annten, totalen Kriegseinsatzes vernichtet haben, es ist nicht meine [Schul]d, dass 16 meiner nächsten Verwandten, deren Aussagen alles entscheiden [würd]en, in den deutschen Konzentrationslagern ermordet worden sind, es ist [nicht] meine Schuld, dass ich auch meinen besten Freunden niemals konkrete [Angabe]n über den Wert meines Eigentums und über die Höhe meines Einkommens [macht]e, weil ich das Gegenteil als unanständige Protzerei angesehen hätte. Soll ich darum nun abermals ausgeplündert werden? Ich hoffe, es wird nicht dazu kommen. Raymond Ullmann.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Raymond Ullmann, HHStAW Best. 518, Nr. 912)
Der 1906 in Bretzenheim geborene Johann Müller war aktives KPD-Mitglied und wurde 1932 auf Grund seiner Beteiligung am öffentlichen Widerstand gegen eine Flugblattverteilung der NSDAP angeklagt. 1953 stellte er einen Antrag auf Wiedergutmachung, in dem er auch seine Haftzeit im Polizeigefängnis Mainz im Jahr 1943 im Hinblick auf seinen erlittenen Schaden an Freiheit geltend machte. Auf Grund voneinander abweichender (Zeugen-)aussagen wurde Müller immer wieder um Belege seiner Haftzeit gebeten. Er schreibt in einem handschriftlichen Schreiben vom 30. März 1966 an das Bezirksamt für Wiedergutmachung in Mainz:
„Auf Ihr Schreiben vom 31.06.1933, das gerade nicht von Wohlwollen spricht, teile ich Ihnen mit, dass Sie fast 20 Jahre gebraucht haben, um mir mitzuteilen, dass meine Aussagen voneinander abweichen. Sie können nur insofern abweichen, dass ich nicht im Juni 43, sondern erst im Juli 43 von der Gestapo entlassen wurde, weil ich noch in demselben Monat vom Militär eingezogen wurde. Also im Juli 43. Und ich auf Ihrem Büro irrtümlich Juni 43 sagte. Auch möchte ich erklären, dass ich ein Gegner des Faschismus war und bin. Wenn Sie nun von mir verlangen, dass ich Zeugenaussagen mit beglaubigter Unterschrift vorlegen soll, so ist das nach fast 23 Jahren (und von Osthofen sogar schon über 33 Jahren) Hohn, weil die meisten Zeugen tot […] sind. Auch dürft es Ihnen nicht unbekannt sein, dass, selbst wenn ich noch lebende Zeugen auftreiben könnte, die Menschen sich heute scheuen ihre Unterschrift zu geben. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass meine Sache im Sande verlaufen ist und heute nach fast 23 Jahre[n] habe ich keine Lust mir die Füße wund zu laufen. Hochachtungsvoll!“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Peter Bönisch, Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 10243)
Hilde Bertha Becker (geb. Herz) wurde 1913 als Tochter der Louise Friederike Herz und des Emanuel Herz in Osthofen geboren, besuchte die Eleonorenschule in Worms und verlor auf Grund ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit im August 1933 ihre Anstellung als Sekretärin in einem Notariat in Osthofen. Im November 1933 gelang ihr die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Brasilien, von wo aus sie im Oktober 1954 einen Entschädigungsantrag für die entstandenen Kosten der Auswanderung und Schaden im beruflichen Fortkommen stellte. Der Anwalt Hilde Bertha Beckers schreibt in einem Schreiben an das Bezirksamt für Wiedergutmachung in Mainz vom 17. Februar 1960 aus Porto Allegre:
„Ich erlaube mir nochmals darauf hinzuweisen, dass dieses Verfahren seit 6 Jahren anhängig ist und eine entsprechend niedrige Registernummer. Es handelt sich um einen regionalen Fall, deren abschließende Bearbeitung von Ihnen im allgemeinen vordringlich erfolgt. Ich wäre Ihnen deshalb dankbar, wenn die Sache zum Abschluss gebracht werden könnte. Um jede Verzögerung zu vermeiden, überreiche ich Anlage 1 mit der legalisierten Unterschrift der Antragstellerin.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Hilde Bertha Beckers, Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 15933)
Das Bezirksamt für Wiedergutmachung in Mainz schreibt Hilde Bertha Becker in einer Mitteilung vom 9. März 1966:
„Bezug: Ihr Schreiben vom 07. Februar 1966: Zu unserem Bedauern sind wir zur Zeit nicht in der Lage, die Bearbeitung Ihres Antrags aufzunehmen. Wir haben volles Verständnis für die Wünsche aller Antragssteller, ihre Entschädigungssachen alsbald abgeschlossen zu sehen, möchten jedoch zu bedenken geben, dass das Schlussgesetz eine Fülle an Erweiterungs- und Neuanträgen brachte, deren gleichzeitige Bearbeitung unmöglich ist. Wir bitten daher höflichst, sich einige Monate zu gedulden.“
(Auszug aus der Wiedergutmachungsakte Hilde Bertha Beckers, Landesamt für Finanzen – Amt für Wiedergutmachung in Saarburg – Az.: VA 15933)