
Wiedergutmachungsakten als historische Quellen
„Entschädigungsakten geben Einblicke in die Verfolgungssituation einzelner Personen […] während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und stellen einen wertvollen Ersatz für die weitgehend verlorenen unmittelbaren Quellen zu den Verfolgungsmaßnahmen der NS-Institutionen dar.“
zit. n. Franz-Josef Ziwes, Entschädigungsakten/Wiedergutmachungsakten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde via www.leo-bw.de, Stand: 23. Mai 2017
Wiedergutmachungsüberlieferungen
Als Wiedergutmachungs- bzw. Entschädigungsakten bezeichnet man dasjenige Aktengut, welches im Rahmen der Durchführung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG), dessen Vorgängergesetzen sowie weiterer bundes- oder landesgesetzlicher Regelungen entstanden ist.[1] Dabei handelt es sich beim Kern der Wiedergutmachungsüberlieferung um eine enorme Masse an Einzelfallakten (wohl rund 1,5 Millionen), die zum Teil mehrfach vorhanden bzw. an verschiedenen Stellen geführt worden sind, woraus sich Bund-Länder-übergreifend einige Überlieferungsschwierigkeiten ergeben:[2] Wie viele Wiedergutmachungsakten insgesamt angefallen sind, lässt sich nur schwer feststellen; statistisch erfasst werden nur die einzelnen Ansprüche pro Schadensart – dies waren bis zum Jahr 1988 4.384.138 Ansprüche, woraus sich bei durchschnittlich drei Ansprüchen pro AntragstellerIn an die 1,5 Millionen Akten bzw. Antragstellende ergeben.[3] Insgesamt bildet der Überlieferungskomplex eine Aktenmaterialfülle von etwa 30 bis 35 Regalkilometern; geht man davon aus, dass bundesweit im Jahr 2000 noch etwa 100.000 RentenempfängerInnen gemäß BEG existierten, so heißt dies, dass bereits um die Jahrtausendwende 85 Prozent der Wiedergutmachungsakten nicht mehr aktiv benötigt wurden.[4]
Aufbau und Inhalt der Akten
Grundsätzlich sind Wiedergutmachungs- bzw. Entschädigungsakten als archivwürdig anzusehen, da sie in ihrer Gesamtheit wie sonst keine andere Quellengattung besonderen Aufschluss über die vielfältigen NS-Verfolgungsmaßnahmen geben sowie darüber hinaus die Lebensläufe und Schicksale der Antragstellenden und ihrer Familien nach 1945 erhellen.[5] So ging mit der Stellung eines Wiedergutmachungsantrags oftmals eine ausführliche Offenlegung der eigenen Biografie und des Sachstandes der jeweiligen Verfolgung einher. Den Anträgen waren zumeist auch mehr oder weniger zahlreiche Beweismittel angehängt. Dabei handelt es sich um mitunter originale bzw. aus der NS-Zeit selbst, teilweise sogar aus Konzentrationslagern, stammende Dokumente wie Ausweise, Zeitungsartikel, Haftbefehle, Gerichtsurteile, Zeugenaussagen, Zeugnisdokumente, medizinische Gutachten usw..[6] Darüber hinaus lassen sich aus den Akten oftmals die Ermittlungsverfahren bzw. Beweiserhebungen seitens der Entschädigungsbehörden gut und glaubwürdig rekonstruieren.[7]Wiedergutmachungs- bzw. Entschädigungsakten stellen somit eine wertvolle Ergänzung für die weitgehend verlorenen bzw. oft unvollständig erhaltenen unmittelbaren Quellen zu Verfolgungsmaßnahmen von NS-Institutionen dar.[8]
Es gilt jedoch zu beachten, dass man die aus diesen Akten gewonnenen Befunde nicht verallgemeinern sollte, da Wiedergutmachungsakten keine Ersatzüberlieferung für verlorenes Quellengut etwa von NS-Institutionen sind, sondern vielmehr Einblick in individuelle Verfolgtenschicksale vor und nach 1945 geben. Für systematische, flächendeckende statistische und regionale Untersuchungen des NS-Verfolgungssystems sind Wiedergutmachungsakten somit eher weniger geeignet.[9] Potential bieten solche Akten aber für die Untersuchung der konkreten Durchführung der Entschädigungsverfahren (neben besagten Beweismitteln enthalten Wiedergutmachungsakten oftmals zahlreiche Zeugnisse für die Verfahrensabwicklung wie z. B. Vollmachten für Rechtsanwälte oder Verfolgtenorganisationen) und eröffnen darüber hinaus eine reichhaltige Materialgrundlage für sozial- und mentalitätsgeschichtliche Studien zum Umgang der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit den ermordeten und überlebenden Verfolgten des Nationalsozialismus.[10]



(HHStA Wiesbaden; Best. 518, Nr. 912)
Forschungsinteresse
Wiedergutmachungsakten spielten lange Zeit für die Erforschung sowohl der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen als auch der Wiedergutmachungspraxis eine eher randständige Rolle; im Vordergrund des Forschungsinteresses stand vielmehr insbesondere die Betrachtung der Verfolgung, Ausgrenzung, Ermordung und Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung.[11] Dass sich bislang kaum systematische Forschungsansätze auf Wiedergutmachungsakten stützen, sondern vielmehr einzelfall- bzw. personenbezogene oder regionale Untersuchungsvorhaben dominieren, liegt allerdings auch daran, dass die Akten teilweise erst in jüngerer Zeit an die entsprechenden Archive abgegeben worden sind bzw. die Schutzfristen, die einer Einsichtnahme in solche Akten entgegenstehen, langsam beginnen abzulaufen.[12]
Für die Erschließung und Recherche ist außerdem aus rein forschungspraktischer Sicht problematisch, dass der Ort der Schadenszufügung nicht unbedingt dem Ort der Zuständigkeit der jeweiligen Entschädigungsbehörden entsprach; dieser richtete sich nach einer relativ komplexen Wohnsitz- und Stichtagsregelung, was sich vor allem im Fall von Displaced Persons, ExilrückkehrerInnen oder Vertriebenen als hinderlich erweist.[13] Überdies war die Zugehörigkeit zu einer gewissen Verfolgtengruppe bei der Bearbeitung von Entschädigungsansprüchen unerheblich, was bedeutet, dass dies als Kriterium auch nicht in den Karteien der Entschädigungsbehörden vermerkt wurde – ein Umstand, der die Suche nach Antragstellenden hinsichtlich einer bestimmten Verfolgtengruppenzugehörigkeit (außer im Falle der nachträglichen Verzeichnung) deutlich erschwert.[14]


Archivische Erschließung
Da es sich bei Entschädigungsakten um personenbezogenes Aktengut handelt, muss die Recherche nach Betroffenen bzw. der Zugang zu Akten in der Regel über den Namen des/der Antragstellenden erfolgen, angesichts der enormen Aktenfülle oftmals auch zusätzlich über das Geburtsdatum.[15] Eine Suche nach anderen Personenmerkmalen wie z. B. Beruf, Religion oder Parteizugehörigkeit sowie nach Verfolgtenschicksalen wie bspw. Deportation, Ermordung oder Emigration ist nach dem derzeitigen Erschließungsstand nur in Ansätzen möglich; ein beträchtlicher Erschließungsaufwand wird daher noch vonnöten sein, um Wiedergutmachungsakten für Angehörige ebenso wie Forschende noch besser zugänglich zu machen.[16] Allerdings wurden ab den 1990er Jahren sowohl im Bundesarchiv als auch den Staatsarchiven der alten Bundesländer einheitliche, arbeitsökonomische Erschließungsgrundsätze erarbeitet sowie speziell auf Wiedergutmachungsakten abgestimmte Benutzungsfragen geklärt.[17] So erfolgte im Jahr 1998 die Gründung der Archivreferentenkonferenz-AG (ARK-AG) „Wiedergutmachung“ unter Beteiligung des Bundesarchives sowie der Staats- bzw. Landesarchive von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, die 2010 ihren Abschlussbericht[18] als Sachstandsdokumentation zur Wiedergutmachungsüberlieferung in Westdeutschland veröffentlichte.[19] Im Januar 2021 stellte das Bundesministerium für Finanzen (BMF) sein vom Bundesarchiv koordiniertes, digitales Archivierungsprojekt der Wiedergutmachung vor, das eine öffentliche Zugänglichmachung des damit verknüpften Dokumentenerbes über ein digitales Themenportal zum Ziel hat und einen Beitrag leisten soll, um „der Verdrehung der Fakten und der Trivialisierung des Holocaust entgegenzutreten“,[20] was das BMF als die Zukunftsaufgabe der Wiedergutmachung versteht. Das entsprechende Portal wurde bereits 2022 gelauncht, die digitale Erschließung der Akten ist weiterhin laufend und wird für die kommenden Jahre erwartet.[21] Das Ansinnen des Projekts entspringt laut eigenen Angaben dem Grundgedanken, eine Zeit des Umbruchs zu gestalten. Konkret fasst das BMF darunter den generationellen Wandel, in dessen Konsequenz auch mit dem allmählichen Auslaufen der aktiven Wiedergutmachungszahlungen zu rechnen sein wird.[22] Im Sinne einer Ausdeutung der Wiedergutmachung als „immerwährendes Bemühen“[23] möchte das Archivierungsprojekt dazu beitragen, die Erinnerung an das NS-Unrecht auch für zukünftige Generationen zu bewahren, „zukünftige Wiedergutmachung soll insofern vor allem ein Dialogangebot sein“[24]. Digitale Angebote zur Gattung der Wiedergutmachungsakten sowie deren möglichen Nutzung – so bspw. einen Rechercheratgeber zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts – bietet auch das Landesarchiv Baden-Württemberg;[25] in Rheinland-Pfalz beschäftigt sich u. a. die Universität Trier mit dem Thema der Wiedergutmachung und deren historischen Überlieferung.[26]
[1] Vgl. Eichler, Volker: Entschädigungsakten – Zeitgeschichtliche Bedeutung und Möglichkeiten der Erschließung, in: Degreif, Diether (Red.): Vom Findbuch zum Internet. Erschließung von Archivgut vor neuen Herausforderungen. Referate des 68. Deutschen Archivtags 1997 in Ulm. Siegburg 1998 (Der Archivar, Beiband 3), S. 221–229, hier S. 221; Ziwes, Franz-Josef: Entschädigungsakten/Wiedergutmachungsakten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, Stand: 23.05.2017, URL: https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde/archivaliengattungen/akten/inhaltliche-unterscheidung/entschadigungs-und-wiedergutmachungsakten (aufgerufen am 01.09.2023).
[2] Siehe Eichler 1998, S. 221.
[3] Vgl. ebd., S. 222.
[4] Vgl. ebd.
[5] Siehe ebd., S. 222; Grau, Bernhard: Entschädigungs- und Rückerstattungsakten als neue Quelle der Zeitgeschichtsforschung am Beispiel Bayerns, in: zeitenblicke 3/2 (2004), o. S.; Löffler, Emily/ zur Mühlen, Ilse von: Wiedergutmachungsakten als Quellen für die Provenienzforschung – Erfahrungen und Perspektiven, o. D., S. 1–10, hier S. 1; Ziwes 2017.
[6] Vgl. ebd.
[7] Vgl. ebd.
[8] Vgl. ebd.
[9] Hierzu Eichler 1998, S. 223; Ziwes 2017.
[10] Vgl. ebd.
[11] Siehe Eichler 1998, S. 224; Grau 2004.
[12] Vgl. ebd. Regionale Studien liegen mittlerweile u. a. für Bremen, Schleswig-Holstein, Bayern und die Städte Berlin, Hannover und Hamm vor, siehe Grumblies, Florian: Rückerstattung und Entschädigung. Die Praxis der „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts am Beispiel der Juden der Stadt Hannover 1945–1965, Online-Publikation (2021), URL: https://www.repo.uni-hannover.de/handle/123456789/11609 (aufgerufen am 21.06.2024); Scharffenberg, Heiko: Sieg der Sparsamkeit: Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Schleswig-Holstein. Münster 2004; Schmidt, Hans-Gerhard: Entschädigung für NS-Unrecht ohne Wiedergutmachung? Sozialstaatliche Schadensregulierung für Verfolgte des Nationalsozialismus in Bremen. Bremen 2023; van Bebber, Katharina: Wiedergutgemacht? Die Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung nach dem Bundesergänzungsgesetz durch die Entschädigungsgerichte im OLG-Bezirk Hamm. Berlin 2001; Winstel, Tobias: Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland. München 2006; zur Nieden, Susanne: Unwürdige Opfer. Die Aberkennung von NS-Verfolgten in Berlin 1945 bis 1949. Berlin 2003. Eine regionalspezifische Untersuchung für das Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz oder konkrete Regionen davon steht aktuell noch aus.
[13] Vgl. Eichler 1998, S. 223.
[14] Siehe ebd., S. 226. Für rheinland-pfälzische Spezifika der Archivierung der Bestände der Wiedergutmachung sei an dieser Stelle auf die Unterseite der didaktischen Erläuterungen verwiesen.
[15] Vgl. ebd., S. 227–228.
[16] Hierzu ebd. Siehe hierzu auch die Bemerkungen in der Sektion der didaktischen Erläuterungen.
[17] Siehe Schmidt, Christoph: Empfehlungen der ARK-Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Wiedergutmachung“, in: Archivar 63 (2010), S. 316–318.
[18] ARK-Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Wiedergutmachung“: Abschlussbericht der ARK-Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Wiedergutmachung“. Düsseldorf 2009, URL: https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Downloads/KLA/wiedergutmachung-abschlussbericht.pdf?__blob=publicationFile (aufgerufen am 14.05.2024).
[19] Vgl. ebd.
[20] Vgl. Das Archivierungsprojekt der Wiedergutmachung und seine Bedeutung im Kampf gegen den Antisemitismus. Monatsbericht des Bundesministeriums für Finanzen (Januar 2021), online verfügbar unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2021/01/Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-7-archivierungsprojekt-wiedergutmachung.html (aufgerufen am 21.06.2024), S. 76–77.
[21] Siehe https://www.archivportal-d.de/themenportale/wiedergutmachung (aufgerufen am 21.06.2024); https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Artikel/Ueber-uns/Aus-unserer-Arbeit/themenportal-wgm.html (aufgerufen am 22.06.2024).
[22] In Rheinland-Pfalz etwa werden derzeit noch ca. 2000 aktive Anträge von Landesamt für Finanzen betreut (Stand Juni 2024).
[23] Vgl. Das Archivierungsprojekt der Wiedergutmachung und seine Bedeutung im Kampf gegen den Antisemitismus. Monatsbericht des Bundesministeriums für Finanzen (Januar 2021), online verfügbar unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2021/01/Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-7-archivierungsprojekt-wiedergutmachung.html (aufgerufen am 21.06.2024), S. 78.
[24] Vgl. ebd., S. 78.
[25] Siehe https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde/archivaliengattungen/akten/inhaltliche-unterscheidung/entschadigungs-und-wiedergutmachungsakten (aufgerufen am 22.06.2024); siehe auch https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde/archivaliengattungen/akten/inhaltliche-unterscheidung/entschadigungs-und-wiedergutmachungsakten (aufgerufen am 22.06.2024).
[26] Vgl. https://www.forschungsstelle-seal.de/projekte/wiedergutmachung/ (aufgerufen am 22.06.2024).
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